43. Kapitel

 

In der nach wie vor herrschenden Stille ging Nell die Treppe hinab und betrat den Saal. Die Blicke der gegnerischen Vampire folgten ihr ungläubig, aber sie beachtete sie nicht. Alles, was sie sah, waren die Kinder, die Ramil in den Armen hielt. Die beiden Kleinen machten keinen Mucks. Mit stillen, ernsten Gesichtern blickten sie ihr entgegen.

Nell hielt nur einmal kurz an, um sich zu bücken und ein Schwert aufzuheben, das jemand fallenlassen hatte. Es war lang und spitz, der Griff mit verschlungenen Gravuren versehen.

Ganz so, wie sie es erwartet hatte.

Farben tanzten vor ihrem Gesichtsfeld, die Burg, das wuchtige Eingangstor ... Sie waren fast da.

»Gib mir die Kinder«, befahl sie in einem eigenartig leblosen, entrückten Ton, als befände sich zwischen ihr und der Welt eine Glaswand. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Ramil fallen. Im Hier und Jetzt jedoch stand er stolz vor ihr und lachte höhnisch.

»Ich hatte mir schon gedacht, dass du unterhaltsam sein würdest, kleine Blutspenderin.«

Sie achtete nicht auf seinen Spott, denn sie hörte seine Worte nicht zum ersten Mal. Tatsächlich war sie seit langer Zeit auf genau diesen Moment vorbereitet gewesen.

Die Zukunft hüllte sie ein wie eine schützende, durchsichtige Blase. Sie brauchte nur ihre Gedanken auszustrecken und sich das herauszupicken, was sie sehen wollte, was sie brauchte ...

Sie war jetzt mit ihren Brüdern und Schwestern verschmolzen, die telepathische Verbindung war wie ein dickes Seil, das sie sirrend miteinander verband.

Sie lächelte. Endlich. Da waren sie.

Nell hob ihr Schwert. Gleichzeitig betraten vier Frauen und sechs Männer den Saal, angeführt von einer alten Frau. Morag schenkte Nell keinen Blick. Blicke waren überflüssig, jetzt wo sie geistig miteinander verbunden waren.

»Menschen? Und die sollen euch helfen?« Ramil lachte Alexander aus, der Nell in den Saal hinab gefolgt war.

Alexander sagte nichts. Nell wusste, dass er nicht mehr begriff als Ramil, aber das spielte keine Rolle. Ihren Freunden würde nichts mehr geschehen, dafür würde ihre Familie sorgen.

Ramils Blick fiel ergrimmt auf ihr Schwert, dann befahl er mit lauter Stimme: »Tötet die Menschen!«

Die Zeit hielt an. Vor den Augen der Verbundenen spulte sich die Zukunft ab. Sie sahen alles, jede einzelne Bewegung der Angreifer. Was nun folgte, spielte sich blitzschnell ab. Die Wahren Vampire versuchten sich auf die Menschen zu stürzen, und die anderen Vampire wiederum vertraten ihnen den Weg, versuchten die Menschen zu beschützen. Die Seher taten zunächst gar nichts. Wie ein Mann warteten sie den geeigneten Moment ab. Ihre Bewegungen waren minimal und präzise. Mühelos wichen sie den Waffen ihrer Angreifer aus, hoben ihre Schwerter und stießen sie den Gegnern direkt ins Herz.

Stille senkte sich über den Saal. Einige schnappten entsetzt nach Luft, als sie des Ergebnisses ansichtig wurden. Sechzehn Vampire waren gefallen, zwei davon durch Nells Schwert. Nun hingen die Blicke der Wahren Vampire auf einmal wachsam, beinahe ängstlich an den Menschen.

Nell hob erneut ihr Schwert.

»Gib mir die Kinder«, wiederholte sie, obwohl sie wusste, dass er nichts dergleichen tun würde. Aber es waren Worte, die gesprochen werden mussten. Ihre neue Familie war in Gedanken bei ihr, und sie konnte sehen, dass niemand von ihnen Freude am Töten hatte. Die meisten hatten noch nie getötet. Aber jetzt war nicht die Zeit, Schwäche zu zeigen. Morags Stärke durchdrang sie alle. Sie war die Älteste, die Uralte, Anführerin, Urgroßmutter, Weise Frau. Ihre Macht, ihre Kraft war es, die ihrer aller Sicht stärkte. Sie war das Auge, und ihr Wissen durchströmte Nell wie ein kalter Fluss.

»Was zum Teufel!?«

Ramil schäumte vor Wut. Zornig hob er das Schwert und hielt es den Kindern an die Kehle.

»Nein!«, schrie Angelica, außer sich vor Angst. Aber es gab keinen Grund zur Sorge, wie Nell wusste. Sie wusste allerdings auch, dass es keinen Zweck gehabt hätte, Angelica dies zu sagen.

Sie musste es ihr zeigen.

»Angelica, schau!«

Morag hatte ihr gezeigt, wozu Angelica fähig war. Dennoch war es eine Überraschung für Nell, die Gedanken der anderen am Rande ihrer Verbindung zu spüren. Eine Gedankenleserin. Wer hätte das gedacht?

Morag erlaubte mit einem Wink, Angelica Zugang zu gewähren. Nun sah die Prinzessin alles, was auch sie sahen, fühlte, was auch sie fühlten. Nell konnte nun Angelicas Gedanken ebenso lesen, wie sie die ihren. Und sie sah, dass der anderen das alles zu viel wurde. Konzentration, befahl Morag, das Auge, und Nell musste nicht fragen, was gemeint war. An diesem sicheren Ort gab es keine Fragen, keine Angst, keine Zweifel.

Nell und ihre Brüder und Schwestern verbargen ihre Gefühle vor Angelica und ließen sie nur das sehen, was sie sehen musste, damit sie es weitergeben konnte. Vampire konnten Gedanken lesen, und Angelica würde als Verbindungsfrau fungieren.

Wortlos gab sie die erhaltenen Informationen an ihren Mann Alexander weiter. Nun wusste auch das Oberhaupt des Ostclans Bescheid. Er wusste, was war und was kommen würde. Er wusste, wie Ramils Männer zu besiegen waren. Nur wenige Sekunden waren vergangen, seitdem Nell Angelicas Namen gerufen hatte, doch nun wussten auch Patrick, Ismail, Margaret, Kiril und James Bescheid.

»Das reicht! Tötet sie! Alle!«

Ramils Befehl schallte durch den Saal. Angelica hielt Mikhail und Violet fest, um sie davon abzuhalten, die Treppe hinunterzueilen. Die Seher handelten ohne Zögern, und ein Vampir nach dem anderen fiel. Alexander trat um Nell herum und näherte sich einem Gegner zu ihrer Rechten. Inmitten des Schlachtenlärms holte Nell tief Luft. Sie wartete fünf Herzschläge, dann richtete sie ihr Schwert über ihre Schulter nach hinten aus. Zwei Herzschläge und sie stieß zu, mitten ins Herz ihres Gegners.

Sie riss das Schwert wieder heraus, den Blick unverwandt auf Ramil gerichtet. Dessen Aufmerksamkeit galt nun Alexander. Ramil nahm das Schwert von der Kehle der Kinder.

Alexander kehrte ihm den Rücken zu; die Versuchung war zu groß.

Wie in Zeitlupe sah Nell, wie Ramil mit dem Schwert ausholte. Ihre Augen wurden schmal. Sie durfte ihr Ziel nicht verfehlen, und sie würde es auch nicht. Ramil machte einen Ausfallschritt. Die Kinder fest an sich gepresst, beugte er sich vor. Den Arm über die Köpfe der Kinder ausgestreckt, zielte er auf Alexanders ungeschützten Rücken. Nell tat zwei lange Schritte und stieß zu. Ihre Klinge fuhr über die Köpfe der Kinder hinweg direkt in Ramils Hals.

Ein Schrei zerriss die Stille, genau wie es die Seher vorausgesehen hatten. Als die wenigen Wahren Vampire, die noch am Leben waren, Anastasias Schrei hörten, hielten sie inne. Sämtliche Blicke richteten sich auf Ramils leblosen Körper. Nell beugte sich über ihn und nahm die schreienden Kinder an sich.

»Ergebt euch oder sterbt«, sagte sie schlicht.

Die Wahren Vampire zögerten, aber ihr Zögern war Antwort genug. Patrick ging zu Nell. Sanft nahm er ihr sein Kind ab und drückte einen zärtlichen Kuss auf Catherines Köpfchen. Dann stieß er sein Schwert ins Herz des Anführers der Wahren Vampire.

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